Drei Fragen an Dr. Dominique Rauch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIPF mit dem Forschungsschwerpunkt „Bedingungen und Förderung des schulischen Erfolgs von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund“: Sie nimmt Stellung zur aktuellen Debatte über eine Deutschpflicht für zu Hause. Dabei beschreibt sie unter anderem, was sich hinter der sogenannten „Interdependenzhypothese“ verbirgt, wie in der öffentlichen Diskussion PISA-Ergebnisse teilweise überinterpretiert werden und wann sich der Besuch einer russischen Kita lohnt.
Derzeit diskutiert die Öffentlichkeit darüber, ob Eltern mit Migrationshintergrund auch zu Hause konsequent Deutsch mit ihren Kindern sprechen sollten – welche wissenschaftliche Debatte steckt dahinter?
Rauch: Es gibt zwei Pole innerhalb dieser Debatte: Der eine ist mit der sogenannten „Time on Task“-Hypothese verknüpft, nach der das Kompetenzniveau in einer Sprache unter anderem mit der Zeit zusammenhängt, die Kinder in einer bestimmten sprachlichen Umgebung verbringen. Dieser Pol spiegelt sich in der politischen Diskussion im Primat des Deutschen wider. Der andere Pol ist mit der sogenannten „Interdependenzhypothese“ verbunden, also der Annahme, dass Kompetenzen von einer Sprache in die andere transferiert werden. Dieser Pol findet sich unter anderem in Forderungen nach früher Förderung der jeweiligen Muttersprache wieder.
Welche wissenschaftlichen Befunde befeuern diese Diskussion?
In PISA und anderen repräsentativen Schulleistungsstudien hat sich wiederholt gezeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund, die zu Hause Deutsch mit ihren Familien sprechen, auch über eine höhere Lesekompetenz in Deutsch verfügen, als Kinder, die aus vergleichbaren Familien stammen und dies nicht tun. An solchen und ähnlichen Ergebnissen hängt sich die gesamte Debatte im Grunde auf. Das ist ein starkes Argument, PISA kann jedoch keinen Einblick in Mechanismen bieten, die den Zusammenhang zwischen Familiensprache und Lesekompetenz erklären könnten.
In der öffentlichen Diskussion wird hieraus jedoch ein kausales Argument: Nämlich, dass Kinder über niedrigere schulisch relevante Kompetenzen verfügen, weil sie zu Hause nicht Deutsch sprechen. Der Zusammenhang zwischen zu Hause gesprochener Sprache und in PISA erhobenen Kompetenzen wird übrigens seit der ersten Erhebung im Jahr 2000 geringer. Das liegt womöglich daran, dass es seither besser gelingt, durch institutionelle Förderung den Mangel an außerschulischen Lerngelegenheiten der deutschen Sprache zu kompensieren.
Was kann man Eltern mit Migrationshintergrund dann raten?
Ich würde den Familien dazu raten, in der Sprache mit den Kindern zu sprechen, in der sie sich selber zu Hause fühlen. Denn in dieser Sprache bieten sie den Kindern das Spektrum an sprachlichem Input an, das dazu führt, dass sie diese Sprache auch ‚muttersprachlich erwerben‘. Aber: Es gibt ja andere Wege, Deutsch zu den Kindern zu bringen. Sie leben in einem deutschen Umfeld. Es wäre toll, wenn die Kinder frühzeitig in einer deutschen Umgebung sind – am besten im Alter unter vier Jahren, beispielsweise in einer Krabbelgruppe oder Kita. Das könnte dann dazu beitragen, dass sie erfolgreich bilingual werden. Wenn ich wollte, dass meine Kinder beispielsweise deutsch-russisch bilingual würden, dann würde ich zu Hause Deutsch sprechen und sie eine russische Kita besuchen lassen.
Dr. Dominique Rauch war an der deutschen Berichterstattung zum Thema Jugendliche mit Migrationshintergrund in PISA 2009 und 2012 beteiligt und leitete, gemeinsam mit Dr. Jasmin Decristan, das Projekt BiPeer – Förderung der Deutsch-Lesekompetenz bilingualer Grundschüler durch Peer-Learning, das seit März 2018 abgeschlossen ist.