Die Digitalisierung sämtlicher Gesellschaftsbereiche macht auch vor der Wissenschaft nicht Halt und verändert das wissenschaftliche Arbeiten. Einer der DIPF-Mitarbeiter, der sich damit befasst, ist Dr. Christoph Schindler. Im DIPFblog berichtet er darüber, wie ihn die University of Alberta in Edmonton eingeladen hat, als deutscher Experte für Digital Humanities an zwei wissenschaftlichen Konferenzen teilzunehmen und wie er dabei und am Lehrstuhl von Professor Geoffrey Rockwell Kontakte und neue Impulse gesammelt hat.
Von Christoph Schindler
Das große Thema meiner Forschungsreise waren die Potenziale der Digitalisierung für die Bildungsforschung. Geoffrey Rockwell habe ich bei einem kurzen Besuch am DIPF kennengelernt. Ende Februar hat er sich bei uns das Informationszentrum Bildung angeschaut und einen Gastvortrag zum Thema „Building Research Capacity across the Humanities and Social Sciences“ gehalten. Im April hatte ich bereits ein Konferenzbeitrag in Kanada geplant, und der Kontakt zu Professor Rockwell hat es mir ermöglicht, einen fünfwöchigen Aufenthalt bei ihm am Kule Institute for Advanced Study (kias) der University of Alberta dranzuhängen. Die Zusammenarbeit mit Rockwell war deshalb besonders spannend, weil er sehr stark vernetzt und Möglichkeitsräume für die Geisteswissenschaften in der digitalen Welt schafft – da wollte ich wissen: Wie und warum macht er das? Rockwell ist Philosoph und hat an der University of Alberta einen Lehrstuhl für Philosophy and Humanities Computing. Eines seiner bekanntesten Projekte ist Voyant, eine webbasierte Textanalyseumgebung, die er mit Stefan Sinclair von der McGill University entwickelt.
In Kanada waren nicht nur die Projekte, sondern auch die fortgeschrittene Digitalisierung des wissenschaftlichen Betriebs augenfällig: Rockwell und sein Team haben beispielsweise eine Around-the-World-Konferenz zum Thema Big Data organisiert. Dahinter verbirgt sich eine internetbasierte Konferenz mit einem Livestream über unterschiedliche Zweitzonen hinweg und der Einbindung von Teilnehmern über Hashtags bei Twitter. Eine Konferenz ganz ohne Reisekosten oder Jetlag! Auf meiner zweiten Konferenz, der Research-Data-Management-Week, ging es unter anderem darum, welche Möglichkeiten virtuelle Forschungsumgebungen im Umgang mit Forschungsdaten bieten.

Im Alltag an der Universität selbst wurde ich freundlich empfangen und mir wurde direkt ein eigenes Büro an der Uni zugeteilt; ich wurde sofort in die Arbeit der einzelnen Arbeitskreise eingebunden, obwohl sich alles relativ kurzfristig ergeben hat. Einige der vielen Kontakte, die ich dort knüpfen konnte, war zu Susan Brown und ihren MitarbeiterInnen von der Forschungsumgebung Canadian Writing Research Collaboratory (CWRC) oder zum Vertreter von Compute Canada für die Digital Humanities, John Simpson. Bei Compute Canada handelt es sich übrigens um eine Super-Computing-Infrastruktur, bisher eher für die Naturwissenschaften aufgesetzt, aber eben mit der Idee, diese auch für geisteswissenschaftliche Forschung zugänglich zu machen. Über diese Möglichkeiten zur Vernetzung und Diskussion habe ich mich besonders gefreut, weil ich mir von der Reise erhofft hatte, viele Kontakte zu knüpfen und in möglichst viele Bereiche Einblick zu erhalten.
Insgesamt ist mein Eindruck, dass der disziplinübergreifende Austausch innerhalb der Wissenschaft dort stärker ausgeprägt ist: Es gab beispielsweise während meiner Zeit in Kanada einen Kongress, einfach ‚the Congress‘ genannt, bei dem sich sämtliche sozial- und geisteswissenschaftlichen Associations an einem Ort treffen und dort ihre Jahrestagungen abhalten – das erzeugt natürlich eine relative Nähe zueinander und baut Barrieren zwischen den einzelnen Disziplinen ab.
Dabei hat sich auch im wissenschaftlichen Alltag jenseits der großen Konferenzen bestätigt, dass die digitale Geisteswissenschaft in Kanada viel offener ist. Es besteht generell ein Bewusstsein darüber, dass man davon profitiert, unterschiedliche Sichtweisen und Disziplinen zusammenzubringen. Dieser Ansatz geht sogar über die Kollaboration innerhalb der Wissenschaft hinaus: In Kanada geht es viel mehr als in Deutschland darum, Bürger zu befähigen, sich am Wissenschaftsprozess zu beteiligen. Das Ganze läuft im angelsächsischen Raum unter dem Schlagwort ‚Citizen Science‘ und ist natürlich auch in Deutschland nicht gänzlich unbekannt, der Leibniz-Forschungsverbund Science 2.0 etwa greift den Gedanken der ‚Bürgerwissenschaft‘ auf.
Wie bewerkstelligen wir diese weitreichende Befähigung, sich an der Wissensbildung zu beteiligen? Wie arbeiten wir zusammen? Wie sieht die Gewichtung aus? Wie bekommen wir ein gemeinsames Projekt zustande? Die Antworten können sehr technikgeprägt sein – so wie bei der Entwicklung des Analysewerkzeugs Voyant. Oder eher inhaltlich, wie bei der Forschungs- und Diskussionsplattform zum EuroMaidan in der Ukraine. In Deutschland werden Inhalt und Technik häufig getrennt voneinander wahrgenommen: Auf der einen Seite gibt es die Informatiker, auf der anderen die Geisteswissenschaftler. Das ist weder forschungs-, noch gestaltungsgerecht. Ich persönlich sehe mich im Schnittstellenbereich. Am IZB des DIPF wollen wir diese Schnittstelle zwischen digitalen Technologien und geistes- und sozialwissenschaftlicher Bildungsforschung ausbauen. Wissensproduktion findet nicht im luftleeren Raum statt – sie muss irgendwo wirken. Bei der Wirkung können digitale Infrastrukturen neue Möglichkeiten bieten, aber auch Grenzen. Deshalb wollen wir die Bildungsforschung dazu befähigen, mit den neuen digitalen Technologien arbeiten zu können und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Bildungspraxis davon profitiert.