Ein Konsortium aus Wissenschaftlern, an dem auch Kolleginnen und Kollegen vom DIPF beteiligt sind, legt dieser Tage neue Ergebnisse der StEG-Studie (Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen) vor. Dr. Monika Mattes hat selbst lange Jahre an einer eigenen Studie zum Thema geforscht – und zwar aus historischer Perspektive. Warum das Modell Ganztagsschule in Deutschland lange Zeit als Schreckensbild galt, der Westen des Landes über Jahrzehnte international einen Sonderweg gegangen ist und wie diese Entwicklung im Ost-West-Konflikt begründet liegt, erklärt die DIPF-Bildungshistorikerin im Interview.
Wo stehen wir heute mit der Entwicklung von Ganztagsschulen im Vergleich zu früher?
Mattes: Ich würde aktuell von einer Reformphase sprechen, die mit dem Investitionsprogramm der rot-grünen Regierung 2003 zum Ausbau von Ganztagsschulen begonnen hat – auch in Reaktion auf das schlechte Abschneiden Deutschlands in der ersten PISA-Studie 2000. Das 4-Milliarden-Investitionsprogramm markiert eine Weichenstellung für mehr Ganztagsschulen und eine deutliche Abkehr von der bisherigen westdeutschen Tradition als Halbtagsschulland.
Liegt in dieser Tradition auch die erschwerte Einführung der Ganztagsschule in Deutschland begründet?
Wenn wir gegenwärtige Probleme bei der Einführung von Ganztagsangeboten besser verstehen wollen – zum Beispiel die vergleichsweise starke Zunahme von ungebundenen schulischen Nachmittagsangeboten – lohnt es in der Tat, einen Blick zurückzuwerfen auf die lange Vorgeschichte: Die Frage, wieviel Einfluss Staat und Familie jeweils auf die Erziehung von Kindern haben sollen, gehört zu den großen gesellschaftlichen Kontroversen des 20. Jahrhunderts. Diese Frage wurde in den zwei deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ja sehr unterschiedlich beantwortet. In der DDR hatte mit der Einheitsschule und der Integration von Kindergarten und Schulhort im Namen sozialistischer Gesellschaftspolitik ein Bruch mit den tradierten Strukturen stattgefunden. Im antikommunistischen Klima der frühen Bundesrepublik wurde der Osten Deutschlands immer wieder als abschreckendes Beispiel für die Verstaatlichung von Erziehung ins Feld geführt – und damit auch alle Formen ganztägiger Bildung und Erziehung, die in der DDR mit der Kombination aus Halbtagsschule und Schulhort die Regel waren. Im Westen dominierten traditionelle Vorstellungen der Hausfrau-Ernährer-Ehe die Politik und ganztägige, öffentliche Kinderbetreuung hatte immer den Ruch einer sozialfürsorgerischen Notmaßnahme. Die war nur für diejenigen Kinder legitim, deren Mütter gezwungen waren zu arbeiten. Solche Argumente wurden später zwar schwächer, konnten aber jederzeit reaktiviert werden und haben somit die Entwicklung der Ganztagsschule im Westen und im wiedervereinten Deutschland gebremst. In meiner Studie habe ich unter anderem für die 1950er bis 1980er Jahre die Themenkonjunkturen zur Ganztagsschule untersucht. Das Thema wurde alle paar Jahre öffentlich verhandelt, ohne dass sich damit jedoch ein Politikwechsel verband. Damit wurde mit der westdeutschen Halbtagsschule gerade auch im internationalen Vergleich ein Sonderweg beschritten.
Gab und gibt es noch andere Gründe, warum sich Deutschland mit der Einführung der Ganztagsschule schwer tut?
Zwei Gründe möchte ich hier noch nennen: Der erste ist die mentale Verankerung der Halbtagsschule in der pädagogischen Professionskultur. Gerade wenn wir an die Feminisierung des Lehrerberufs seit den 1960er Jahren denken, erscheint es wenig überraschend, dass viele Frauen sich für diesen Beruf entschieden, weil die Halbtagsschule so familienkompatibel war. Der zweite Grund für die Beharrungskraft der Halbtagsschule hat mit der in der Bundesrepublik besonders ausgeprägten institutionellen und professionellen Trennung von Bildung und Erziehung zu tun. Das heißt: Schule und Jugendhilfe sind zwei separierte pädagogische Praxisfelder mit ihren eigenen Logiken, denen die Kooperation im Rahmen von Ganztagsprogrammen bis heute mitunter schwerfällt.
Gerade der Blick auf die konkrete, einzelne Schule zeigt, dass wir es jeweils mit unterschiedlichen Konstellationen zu tun haben und es auch historisch schwierig ist, von ‚der‘ Ganztagsschule zu sprechen. Ich habe in Fallstudien an drei konkrete Ganztagsschulen herausgefunden, dass zu den Erfolgsvoraussetzungen oder Gelingensbedingungen neben dem politisch-historischen ‚window of opportunity‘ außerdem gehört: von der Schulleitung und dem Lehrerkollegium gemeinsam getragene pädagogische Anschauungen, Reformbereitschaft und großes Engagement an den einzelnen Einrichtungen.

Wenn es um Bildungsreformen geht – wie optimistisch blicken Sie derzeit in die Zukunft?
Vergleichen wir die Situation heute mit dem großen Reformoptimismus im Bildungswesen der 1960er und frühen 1970er Jahre, so halte ich einen solchen Bildungsboom für nicht wiederholbar. Dieser war eng mit dem ökonomischen Boom verbunden und von einem zeittypischen Fortschrittsglauben getragen. Auch wenn die Ernüchterung der Bildungsreformer damals groß war, weil Bildungspolitik eben nicht allein als Gesellschaftspolitik aufgeht und auch heute die Gesamtschule nicht das alleinige Allheilmittel für gesellschaftliche Problemlagen wie Kinderarmut ist – wir brauchen heute mehr denn je eine großzügiger finanzierte und aktiv steuernde Bildungspolitik, die durch exzellent ausgebildete und motivierte Lehrkräfte dafür sorgt, dass Schülerinnen und Schüler nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten gefördert werden und diese individuelle Förderung nicht nur ein Schlagwort bleibt – am besten den ganzen Tag lang.
Weitere Literatur:
- Mattes, M. (2015): Das Projekt Ganztagsschule. Aufbrüche, Reformen und Krisen in der Bundesrepublik Deutschland (1955-1982). Wien, Köln, Weimar: Böhlau.
- Mattes, M. (2012): Reformen und Krisen. Ganztagsschule und Frauenerwerbstätigkeit in der Bundesrepublik, In: Paulus, J. u.a. (Hrsg.): Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik. Frankfurt/M., New York: Campus, S. 179-201.