In der gesamten Bildungsforschung wird kaum ein Thema so vielseitig behandelt wie das Lesen. Von der Bedeutung des Vorlesens für den Spracherwerb über diverse Möglichkeiten zum Ausbau der Lesekompetenz, bis hin zum digitalen Lesen und der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Lesens: All diese Facetten spielen in der Arbeit der DIPF-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Rolle. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse stellen wir einige davon an dieser Stelle vor.
Mit über 200.000 Besucherinnen und Besuchern jährlich gehört die internationale Bücherschau auf dem Frankfurter Messegelände zu den großen Beweisen für die Zeitlosigkeit des Lesens: als Freizeitbeschäftigung, als Methode, um Horizont und Wissen zu erweitern oder Alltag einfach einmal Alltag sein zu lassen. Und auch die Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher des DIPF beschäftigt das Thema Lesen fast täglich. Wir haben vier unserer Expertinnen jeweils eine Frage zur Rolle des Lesens in ihrem Fachgebiet gestellt. So vielseitig wie die Forschungsinteressen sind auch ihre Antworten.
Dr. Carolin Hahnel, Habilitandin am Zentrum für technologiebasiertes Assessment
Verliert das Lesen in der digitalen Welt eigentlich an Bedeutung?
Trotz Sprachnachrichten und Videos wird das meiste Wissen im Internet schriftlich geteilt. Hierbei ist das Lesen unsere wichtigste Kernfähigkeit – und seine Bedeutung nimmt in der digitalen Welt sogar zu. Im Internet werden wir oft mit einer Informationsflut konfrontiert, die wir ohne eine erste Vorauswahl nicht bewältigen könnten. Gute Lesefähigkeiten helfen uns dabei, gezielt Informationen zu finden, sie zu interpretieren und sie hinsichtlich ihrer Relevanz und Glaubwürdigkeit zu bewerten. Sicherlich ist Lesen nicht die einzige Kompetenz, die wir für einen sicheren und fachkundigen Umgang mit digitalen Medien benötigen; es bildet aber ein zentrales Fundament für unsere Auswahl und Bewertung von Informationen im Internet.
Jelena Zaric, Doktorandin im Projekt Learning Acceleration Training (LeA)
Welche neuen Möglichkeiten gibt es, Kinder mit Leseschwierigkeiten zu unterstützen?
Eine Möglichkeit, Kinder mit Leseschwierigkeiten zu fördern, ist ein Leseflüssigkeitstraining, das darauf basiert, den Lesevorgang zu beschleunigen. Diese Text-Fading-Methode wurde im Rahmen unseres Projekts „LeA-Training“ erprobt, indem Drittklässlerinnen und Drittklässler acht Wochen lang mit ihr trainiert wurden. In allen Trainingseinheiten lasen sie 30 Sätze am Computer, die in Leserichtung in individueller Geschwindigkeit Buchstabe für Buchstabe ausgeblendet wurden. Nach jedem Satz wurde eine Frage mit vier Antwortmöglichkeiten gestellt, um das Leseverständnis zu erfassen und bei Bedarf die Ausblendegeschwindigkeit anzupassen. Mit weiteren Analysen möchten wir aufdecken, welche Wirkmechanismen dieser Text-Fading-Methode zugrunde liegen.
Christine Schuster, Koordinatorin und Redakteurin des Portals „Lesen in Deutschland“
Wie kann man sich gut über die Möglichkeiten der Leseförderung informieren?
Zum Beispiel auf „Lesen in Deutschland“, dem Portal des Deutschen Bildungsservers zum Thema Leseförderung. Dort finden sich unter anderem Berichte über erfolgreiche Projekte und Aktionen, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene an Literatur heranführen beziehungsweise zum Lesen und Schreiben motivieren, und Artikel über Forschungsprojekte und Studien.
Außerdem veröffentlichen wir auf dem Portal Empfehlungen neuer Kinder- und Jugendbücher ausgewählter Experten- und Jugendjurys. Nicht zuletzt stehen den Besucherinnen und Besuchern Kurzprofile von Akteuren, Links zu Arbeitsmaterialien und ein Lesekalender zur Verfügung. Einmal im Monat informiert der LiD-Newsletter über die neuesten Beiträge auf www.lesen-in-deutschland.de und über aktuelle Termine von Lesefesten und Literaturtagen.
Josefine Lühe, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Forschungssynthese zur Genese sozialer Ungleichheiten des Bildungserwerbs
Können Mädchen eigentlich wirklich besser lesen?
Pauschal lässt sich das nicht sagen. Schulleistungsstudien zeigen zwar, dass Mädchen im Durchschnitt eine höhere Lesekompetenz aufweisen als Jungen. Doch der Vorteil der Mädchen fällt zum Beispiel je nach Textsorte unterschiedlich groß aus. Und ihre besseren Leistungen sind zumindest teilweise auf ein geringeres Leseinteresse der Jungen zurückzuführen, was auch dadurch bedingt ist, dass Lesen in unserer Gesellschaft oft weiblich konnotiert wird. Außerdem fallen die Unterschiede bei der Leseleistung innerhalb der Gruppe der Mädchen und Jungen größer aus als zwischen den Geschlechtern. So gibt es zum Beispiel Hinweise darauf, dass die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen je nach sozialem Hintergrund unterschiedlich stark ausgeprägt sind.