Der lange Weg zur individuellen Förderung

In der öffentlichen Debatte um guten Unterricht gilt es als zentrales Ziel, auch in heterogenen Lerngruppen alle Schülerinnen und Schüler möglichst passgenau zu fördern. Wenig konkret wird es allerdings meistens bei der Frage, was das für die Schulen und die Lehrkräfte bedeutet. Dr. Hanna Dumont zeigt: Individuelle Förderung sollte als tiefgreifende Gesamtstrategie für den Unterricht angegangen werden – und ist mit großen Herausforderungen verbunden.

Von Dr. Hanna Dumont

Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich bereits zu Beginn der Schulzeit auf vielfältige Art und Weise. Während manche von ihnen schon lesen können, beherrschen andere noch nicht mal die Unterrichtssprache. Während sich einige mit Begeisterung neues Wissen aneignen, haben andere keine Lust zur Schule zu gehen. Während die einen ohne Probleme Kontakte knüpfen, kostet andere das soziale Miteinander im Klassenzimmer große Mühen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Wie sollen Lehrkräfte und Schulen diesen Unterschieden und den damit einhergehenden Bedürfnissen der einzelnen Schülerinnen und Schüler gerecht werden? Mit dieser Frage ist das Schulwesen seit jeher konfrontiert. Doch die Antworten haben sich verändert.

Ein Paradigmenwechsel und seine Folgen

Lange Zeit lag der Fokus darauf, homogene Lerngruppen zu schaffen – mit dem Ziel, die Heterogenität der Schülerschaften für die Lehrerinnen und Lehrer möglichst gering zu halten. In jüngerer Zeit lässt sich jedoch ein Paradigmenwechsel beobachten. So wird Heterogenität zunehmend nicht mehr als Problem, sondern als Chance und Bereicherung für das schulische Lernen betrachtet. Damit einher geht der Appell, Schülerinnen und Schüler nicht länger in verschiedene Leistungsgruppen einzuteilen, sondern sie in heterogenen Lerngruppen möglichst individuell zu fördern. In der Tat findet sich der Begriff „Individuelle Förderung“ in den Schulgesetzen aller Bundesländer wieder. Er ist ein zentrales Kriterium für Schulentwicklung und Gegenstand der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. Er wird gleichermaßen von Eltern- wie Lehrerverbänden propagiert und ist laut Kultusministerkonferenz die Grundlage für ein zukunftsfähiges Bildungssystem.

„Heterogenität wird zunehmend nicht mehr als Problem, sondern als Chance und Bereicherung für das schulische Lernen betrachtet.“

Weniger deutlich wird es bei der Frage, wie genau solch eine individuelle Förderung aussehen kann und sollte. Das ist bedauerlich, denn der aktuelle Diskurs bietet die Chance, sie als eine tiefgreifende Gesamtunterrichtsstrategie zu verstehen und umzusetzen. Das bedeutet, anstatt Schülerinnen und Schülern im Rahmen von einzelnen Maßnahmen oder durch spezifische Unterrichtsmethoden individuell zu fördern, sollten sämtliche Unterrichtsaktivitäten und die sogenannten „Tiefenstrukturen“ des Unterrichts einbezogen werden.

Was individuelle Förderung als Gesamtunterrichtsstrategie bedeutet

Für die Umsetzung dieses Vorhabens bietet die empirische Lehr-Lernforschung zahlreiche Anhaltspunkte. Zentrales Ziel muss es sein, das Unterrichtsangebot im Sinne eines „adaptiven Unterrichts“ kontinuierlich an die individuellen Lernvoraussetzungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler anzupassen, so dass für jedes Kind der jeweils optimale Bereich zwischen Unterforderung und Überforderung gefunden wird. Dabei gilt es nicht nur, die kognitiven Grundfähigkeiten sowie das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler zum Unterrichtsthema zu berücksichtigen, sondern auch sozial-emotionale und motivationale Bedürfnisse, Persönlichkeitseigenschaften sowie den jeweiligen familiären, kulturellen und sprachlichen Hintergrund miteinzubeziehen.

„Bei jedem Kind muss man die richtige Balance zwischen Steuerung durch die Lehrkraft und Selbstorganisation finden.“

Berechtigterweise kann man sich nun fragen, wie eine Lehrkraft dies in einer Klasse mit häufig über 20 Kindern schaffen soll. Adaptiver Unterricht lässt sich nur dann umsetzen, wenn die Schülerinnen und Schüler zunehmend dazu befähigt werden, ihren eigenen Lernprozess zu steuern. Denn das verschafft der Lehrkraft Zeitfenster, um sich intensiver mit Einzelnen zu beschäftigen. Dabei muss man bei jedem Kind die richtige Balance zwischen Steuerung durch die Lehrkraft und Selbstorganisation finden. Denn insbesondere für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler besteht hier die Gefahr einer Überforderung. Entsprechend ist adaptiver Unterricht ohne eine kontinuierliche Diagnostik der Lernenden nicht möglich. Gleichzeitig stößt die konsequente Umsetzung eines solchen Unterrichts in einem klassisch lehrerzentrierten Arrangement an seine Grenzen. Das macht eine Öffnung des Lehr-Lern-Angebots notwendig, Raum, Zeit und Sozialformen sollten flexibilisiert werden. Das bedeutet jedoch nicht, die Schülerinnen und Schüler sich selbst zu überlassen. Die Steuerung, Strukturierung und Anregung zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand muss weiter durch die Lehrkraft erfolgen.

Von Einzelbeispielen zu Veränderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems

Bislang ist solch eine Gesamtunterrichtsstrategie zu individueller Förderung nur an äußerst wenigen Schulen zu finden und erscheint vielleicht sogar utopisch. Zugleich zeigen beispielsweise die Schulen des Deutschen Schulpreises, dass es doch gelingen kann, was eines unserer Projekte untersucht. Aber erfolgreiche Einzelbeispiele dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Umsetzung von individueller Förderung im regulären Unterricht äußerst anspruchsvoll ist und große Herausforderungen mit sich bringt – sowohl für die einzelne Lehrkraft als auch für die gesamte Schule.

„Für individuelle Förderung als Gesamtunterrichtsstrategie, in der jede Unterrichtsstunde als Förderstunde verstanden wird, sind grundlegende und nachhaltige Veränderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems notwendig.“

Denn die Lehrkraft muss nicht nur ein Unterrichtsangebot für alle Schülerinnen und Schüler realisieren, sondern die verschiedenen, parallel ablaufenden individuellen Lernprozesse im Blick behalten. Um die Lehrerinnen und Lehrer nicht zu überfordern und damit zu vermeiden, dass die Unterrichtsqualität sinkt, bedarf diese Art zu unterrichten gründlicher Aus- und Weiterbildung sowie langfristiger Schul- und Unterrichsentwicklung. Dabei hilft beispielsweise die Pädagogische Werktstatt „Lernen: Individuell und Gemeinsam“ der Deutschen Schulakademie. Auf Ebene der Schule ist eine Reihe von strukturellen und organisatorischen Veränderungen notwendig. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften intensiviert werden muss. Insofern lässt sich individuelle Förderung als Gesamtunterrichtsstrategie, in der jede Unterrichtsstunde als Förderstunde verstanden wird, nicht von heute auf morgen erreichen. Dafür sind grundlegende und nachhaltige Veränderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems notwendig.

 

Literaturhinweis: Noch genauer geht Hanna Dumont auf das Thema in einem vor Kurzem erschienenen Fachbeitrag ein: Dumont, H. (2018). Neuer Schlauch für alten Wein? Eine konzeptuelle Betrachtung von individueller Förderung im Unterricht. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, online first.

Foto-Hanna-Dumont

 

Dr. Hanna Dumont ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DIPF-Abteilung „Struktur und Steuerung des Bildungswesens“. Dort leitet sie mehrere Forschungsprojekte zum Thema „Umgang mit Heterogenität“. Zu diesem Thema hat sie vor kurzem auch ihre Habilitationsschrift an der FU Berlin eingereicht.

 

 

 

Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Hanna Dumont für DIPF.