Wenn Schulen geflohene Kinder und Jugendliche aufnehmen

Eben noch auf der Flucht, jetzt schon die Schulbank drücken: Diese Erfahrung haben in den vergangenen Jahren viele Kinder und Jugendliche gemacht, die ihre Heimat hinter sich gelassen haben und nun an Schulen in Deutschland lernen. Eine große Herausforderung für die Lehranstalten, die damit ganz unterschiedlich umgehen. Wie genau, das untersucht ein neues wissenschaftliches Projekt. Die Forschenden wollen zudem wissen, wie sich die Schulen dabei verändern und wie Integration gelingt.

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, vor welchen Aufgaben die Schulen stehen. Nach Angaben des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration sind schätzungsweise rund 130.000 geflüchtete Jugendliche von 2015 bis Anfang 2018 neu in das deutsche Schulsystem eingetreten. Eine so große Anzahl von nicht eingeplanten Schülerinnen und Schülern muss erst einmal untergebracht werden. Für den Schulbesuch ist daher reichlich Improvisation gefragt: „Es gibt es hierzulande keine institutionalisierten Strukturen, um mit diesen Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern umzugehen“, verdeutlicht Dr. Susanne Böse vom DIPF, die das neue Forschungsprojekt koordiniert.

„Es gibt es hierzulande keine institutionalisierten Strukturen, um mit diesen Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern umzugehen“

Ebenso mangelt es an multiprofessionellen Schulteams, in denen Lehrkräfte zum Beispiel mit Psychologinnen und Psychologen sowie mit Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen regelmäßig zusammenarbeiten. Dabei wäre eine Kombination dieses Fachwissens wichtig, um bei der Integration zu helfen. Mal abgesehen davon, dass die Geflohenen oft nur ein paar Brocken oder gar kein Deutsch sprechen und auch immer wieder traumatische Fluchterfahrungen verarbeiten müssen.

Von den Willkommensklassen in den Regelunterricht

Zumindest für den Einstieg der geflüchteten Kinder und Jugendlichen haben eigentlich alle Bundesländer Behelfsstrukturen eingerichtet – zum Beispiel Willkommensklassen. Aber das Ziel ist ja das Ankommen im Regelunterricht und in gemischten Klassenverbänden. Ohne viel Flexibilität und Engagement an den Schulen geht es nicht. Die Projektkoordinatorin berichtet zum Beispiel von Hauptschulen, die sich darauf spezialisiert haben, Kinder mit Fluchterfahrung aufzunehmen. Denn Migrationshintergrund ist dort alles andere als ein Fremdwort und Erfahrung mit Sprachförderung ist reichlich vorhanden. Diese Hauptschulen wollen so auch ihren Status als vermeintliches Auslaufmodell hinter sich lassen. Eine andere Schule hat sich gezielt ein Konzept für den Übergang von den Willkommens- in die Regelklassen überlegt.

Was sich auf jeden Fall zeigt: Die Schulen gehen als Institutionen ganz unterschiedlich mit den neuen Aufgaben um, machen jeweils eigene Entwicklungen durch. Hier setzt das Projekt an. Unter dem Titel „Schulischer Wandel in der Migrationsgesellschaft“ (kurz: SchuWaMi) befassen sich die beteiligten Forscherinnen des DIPF und der Goethe-Universität Frankfurt intensiv mit den Schulkulturen der Einrichtungen. Sie wollen nicht nur wissen, welches Spektrum von Schulkulturen es an Schulen mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen gibt. „Wir untersuchen auch, wie sich die Schulkulturen durch die vermehrte Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit Fluchthintergrund verändern und wie sich diese Bedingungen auf die soziale und schulische Teilhabe der Neuankömmlinge auswirken“, so Böse.

Der Schulkultur auf der Spur

Schulkultur, das klingt erst einmal recht unbestimmt. Doch gestützt auf ein etabliertes theoretisches Konzept nehmen die Wissenschaftlerinnen gezielt bestimmte Aspekte in den Blick, die den Begriff mit Leben füllen sollen. Da wären zunächst die faktischen Rahmenbedingungen, also zum Bespiel die Schulform, der jeweilige Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund oder die von den Lehrkräften erworbenen Qualifikationen, um Deutsch als Zweitsprache zu vermitteln. Dann geht es darum, wie die Beteiligten ihre eigene Schule erleben, welche Rolle etwa Partizipation und Mobbing spielen oder wie das Klima im Unterricht ist. Und das Forschungsteam möchte wissen, wie die Schule sein möchte und wie sie sich dementsprechend nach außen darstellt, was sich beispielsweise in einem veröffentlichten Leitbild zeigt.

Böse
Dr. Susanne Böse im Gespräch mit Kolleginnen

Die Koordinatorin weiß, dass „wir damit einen ziemlich komplexen Ansatz verfolgen“. Dementsprechend breit aufgestellt gehen sie an das Thema heran. In das Projekt fließt nicht nur das Fachwissen aus drei Disziplinen ein: aus der Psychologie, der Erziehungswissenschaft und der Soziologie. Die Forscherinnen verknüpfen auch zwei Methoden, um Antworten auf ihre Fragen zu finden. Zum einen nutzen sie quantitative Erhebungen. Dabei werden standardisierte Tests und Fragebögen mit einer großen Anzahl von Teilnehmenden eingesetzt, deren Ergebnisse generalisierbare Aussagen und Vergleiche zwischen den Untersuchten erlauben. Zum anderen führen sie qualitative Erhebungen durch, bei denen man sich ausgewählten Einzelfällen genauer widmet, um die Zusammenhänge besser verstehen zu können.

Konkret heißt das: Die quantitativen Erhebungen erfolgen an zwei Zeitpunkten im Abstand von einem Jahr an rund 100 weiterführenden Schulen in vier Bundesländern. Darunter finden sich unterschiedliche Schulformen sowie Schulen auf dem Land und in der Stadt. Eine Untersuchungsgruppe sind die Schülerinnen und Schüler aus der 5., 6. oder 7. Klasse – jeweils mit und ohne Fluchthintergrund. Sie absolvieren Leistungstests in Deutsch und Mathematik und bearbeiten Fragebögen, zum Beispiel zu ihrem Wohlbefinden oder zur Kooperationsbereitschaft an den Schulen. Aber auch die Schulleitungen, die Lehrkräfte sowie die Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter beantworten Fragebögen. Für die qualitativen Analysen wählt das Projektteam nach der ersten quantitativen Erhebung zehn besonders interessante Schulen aus. Dort führen sie dann vertiefende Interviews mit den einzelnen Gruppen. Außerdem werten sie Daten und Texte zu den Einrichtungen aus – zum Beispiel die Schulprogramme.

Start mit noch ungewissem Ausgang

Der Einstieg in das Projekt hat schon einmal positiv gestimmt. Beim ersten Erproben der Schülerfragebögen, bei dem vor allem im Vordergrund stand, wie verständlich die Fragen sind, zeigten sich nur an wenigen Stellen Schwierigkeiten. Außerdem gab es ein motivierendes Feedback, wie Susanne Böse berichtet: „Die Schülerinnen und Schüler haben sich darüber gefreut, dass wir wissen wollten, wie es ihnen geht.“ Was für konkrete Ergebnisse die Studie letztlich bieten kann, lässt sich dagegen noch nicht sagen – dafür ist das thematische Feld zu weit. „Natürlich würden wir gerne Schulkulturen identifizieren, denen die Integration der Geflüchteten besonders gut gelingt, so dass wir möglicherweise Best-Practice-Beispiele für die anderen Schulen aufbereiten können. Aber das muss man erst einmal abwarten“, so die Forscherin.

„Die Schülerinnen und Schüler haben sich darüber gefreut, dass wir wissen wollten, wie es ihnen geht.“

Zumindest ist angedacht, wie das Team die Ergebnisse der Forschung gerne weitergeben würde – etwa über Handreichungen für die Bildungsadministration oder über individuelle Rückmeldungen für die Einzelschulen. Was die Wissenschaftlerinnen den teilnehmenden Einrichtungen auf jeden Fall im Nachgang anbieten werden, sind am Thema orientierte Workshops und Fortbildungen. Dabei geht es dann zum Beispiel um Ziele und Strategien für Schulentwicklungsprozesse. Und natürlich wird man am Ende merklich mehr darüber wissen, was es heißt, wenn Schulen geflüchtete Kinder und Jugendliche aufnehmen.

 

Weitere Informationen:

Ein detaillierter Überblick über das SchuWaMi-Projekt findet sich auf der DIPF-Website

Haben Sie als Schule Interesse an einer Teilnahme? Einfach eine Mail an schuwami-studie@dipf.de

Hier erfahren Sie mehr über das Forschungszentrum „IDeA“, wo das DIPF, die Goethe-Universität Frankfurt und das Sigmund-Freud-Institut gemeinsam das Lernen von Kindern untersuchen. Zum IDeA-Zentrum gehört auch das SchuWaMi-Projekt.

 

Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Philip Stirm für DIPF.