Wie können offene Praktiken im Lehr- und Forschungsalltag umgesetzt werden? Was sind die Anreize, offene Wissenschaft und offene Lehre zu praktizieren, und was hält uns davon ab? Die vom Leibniz-Forschungsverbund Open Science geförderte OPER-Studie (Open Practices of Educational Researchers) wollte dies herausfinden und ließ Bildungsforscher*innen offene Praktiken während eines Zeitraums von 6 bis 12 Monaten in unterschiedlichen Anwendungsfällen testen. Ihre Erfahrungen und Meinungen hielten sie in Tagebucheinträgen fest.
Beim Auftaktworkshop im April 2019 traf sich ein Teil der Teilnehmenden zum ersten Mal. Diskussionen und Themen hielt die Gruppe gemeinsam in Wikiversity und in Pads fest.
Fünf der zehn Studienteilnehmer*innen sowie die Projektleiterinnen vom DIPF Frankfurt und dem Open Science Lab der TIB Hannover trafen sich ein Jahr später am 20. März 2020 wieder – auf Grund von Corona diesmal in einem Online-Workshop – und tauschten sich über ihre während der Projektlaufzeit gemachten Erfahrungen und Meinungen aus. Dieser Blogbeitrag, der in einem kollaborativen Schreibprozess von den fünf Teilnehmer*innen sowie den Projektleiterinnen nach Workshopende verfasst wurde, gibt das Wichtigste aus der Diskussion wieder (er beinhaltet nicht die Ergebnisse der Studie, die aktuell ausgewertet werden). Die Autor*innen sind Tamara Heck (@tamaraheck), Ina Blümel (@inablu), Sigrid Fahrer, David Lohner (@davidlohner), Jürgen Schneider (@artzyatfailing2) und Linda Visser.
Bedeutung von Open Science und Digitalisierung
Open Science ist ein weit gefasster Begriff und die Bedeutung ist für jeden sehr individuell. Forschende setzen für sich unterschiedliche Schwerpunkte: „Aktuell priorisiere ich in meiner Forschung die Reproduzierbarkeit, also wie schnüre ich meine Fragebögen, Code, Daten, und kommentierte Analysen zu einem Paket zusammen, das nachvollziehbar ist”, so ein Teilnehmer. Je nach Kontext stehen für andere Forschende die Umsetzung offener Unterrichtspraktiken in der Lehre im Vordergrund oder die Nutzung offener Software.
Heftig diskutiert wurde im Abschlussmeeting die Rolle von Open Science für einen generellen Wandel in der Wissenschaft. Die Diskussion lief auf die Frage hinaus, welche Incentives Forschende für die Öffnung ihrer Arbeitspraktiken haben und dass Traditionen es schwer machten Veränderungen durchzusetzen. „Zur Bewertung der Kandidaten*innen habe ich die Publikations- und Zitationszahlen als sehr nützlich empfunden, da sie für mich persönlich eine gewisse Objektivität gegeben haben, die Kandidaten*innen zu vergleichen”, so die Erfahrung eines Teilnehmenden aus der Praxis. Die Teilnehmenden diskutierten, das zusätzlich alternative Metriken herangezogen werden sollten und dass traditionelle wissenschaftliche Indikatoren kritisiert werden, da sie zum einen zwischen Forschungsfeldern und Fächern nicht vergleichbar sind und zum anderen Publikationen zu neuartigen Phänomenen mit „signifikanten” Ergebnissen und einer glatten Story bevorteilen. Replikationen und Forschung in Nischenthemen würden sich systematisch benachteiligt sehen.
Eine qualitätsvolle und vor allem breit aufgestellte Wissenschaftskommunikation wird ebenfalls als inhärenter Teil von Open Science gesehen. Dazu gehört beispielsweise sowohl die Generierung von Feedback für die Teilnehmenden einer empirischen Studie, als auch die Translation wissenschaftlicher Erkenntnis für Anwendende in der Praxis.
Digitalisierung verspricht Partizipation am Wissenschaftssystem und eine Transformation desselben. Die Teilnehmenden führten Beispiele aus ihrer Praxis an: Durch dezentrale Distributionskanäle können Forschende ihre Daten und Ergebnisse selbst veröffentlichen und auch im laufenden Prozess Feedback der Scientific Community einholen. Letztlich wird durch diese Art von Offenheit vollständige Transparenz und Agilität in der Forschung erst möglich, gleichzeitig werden Kooperationen und Kollaborationen gefördert, sodass der wissenschaftliche Prozess und seine Ergebnisse in Teilen gemeinschaftlich entstehen.
Mit dem Leitmedienwechsel von Papier hin zum Digitalen geht enormes disruptives Potenzial einher: Wissenschaftliche Daten (Daten aller Art, ganze Datenbanken oder Datensätze, Publikationen) können in maschinenlesbaren Formaten vorliegen, die „mit Hilfe von Algorithmen völlig neu ergründet werden und so eine vollkommen neue Art Wissenschaft ermöglichen”, wie beispielsweise in den Digital Humanities. In der Praxis bedeutet Digitalisierung allerdings häufig lediglich eine Überführung von sonst analogen Medien in digitale Formate, so ein Teilnehmer. So seien elektronische Zeitschriften beispielsweise häufig lediglich digital verfügbare PDF-Dateien, die nach wie vor in DIN A4 gesetzt sind, mit dem einzigen Mehrwert, dass sie leichter vervielfältigt und verteilt werden können (für die Auswertung von Referenzen beispielsweise müssen weitere Tools zum Einsatz kommen, wie EXCITE). Die Auswertung von Inhalten über Künstliche Intelligenz bleibe bei dieser im Alten verhafteten Vorgehensweise auf der Strecke. Den Dreiklang von Algorithmizität, Gemeinschaftlichkeit und Referenzialität beschreibt Felix Stalder in der „Kultur der Digitalität” und zeigt, dass durch die Verfügbarkeit von digitalen Medien und Informationen ein kultureller Wandel in der Gesellschaft vollzogen wird. Es sei am Wissenschaftssystem, diesen Wandel ebenfalls zu vollziehen.
Effekte von Offenheit
Offenheit im Forschungsprozess hat, so sind sich die Wissenschaftler*innen selbst einig, aktuell noch viele Nachteile, wie erhöhten Zeitaufwand und fehlende Anreize. Eine Publikation im Open Access Journal bringt weniger Reputation als eine Publikation in einem high-impact Journal, obwohl der Impact Factor stark kritisiert wird und Open Access zu mehr Zitationen führen kann. Vermehrt machen sich nun allerdings auch positive Nebeneffekte bemerkbar. „Es gibt schon positive Side-Effects. Durch meine offenen Praktiken wie dem Teilen von Forschungsdaten wurde ich und meine Kompetenzen besser wahrgenommen”, so ein Teilnehmer aus seiner Erfahrung in den vergangenen 12 Monaten. In der Umsetzung von offenen Praktiken im eigenen Forschungsprozess, in Zeiten politisch beförderter Open Science Praktiken (z.B. cOAlition S) sehen die Teilnehmenden das Potential, die eigene Reputation zu stärken – Open Science als sine qua non von state-of-the-art Forschung.
Empfehlungen im Umgang mit Offenheit
Die gesamte Gesellschaft bei Open Science mitnehmen
Die Bewegung schreibt sich auf die Fahne, der gesamten Gesellschaft einen Nutzen zu bringen. Es kam die Frage auf, wie denn nun offene wissenschaftliche Publikationen und Daten genutzt und ob sie überhaupt von der Gesellschaft wahrgenommen werden. (Einzelne Forschungsprojekte laufen hierzu bereits, wie bspw. das SALIENT-Projekt.)
Offenheit im Kontext betrachten
Eine weitere Diskussion beleuchtete die Ansichten zu Offenheit. Offene Praktiken wie das Teilen von Forschungsdaten mögen an der Persönlichkeit der einzelnen Forschenden liegen, aber die Umsetzung von Offenheit in der Wissenschaft stößt auch auf ganz praktische Probleme: Zum Beispiel die APCs (article processing charges) beim Open Access Publizieren, deren Übernahme durch Institutionen nicht bei allen Forscher*innen gewährleistet ist. Das führt zu Ungleichheit, was für manche Forscher*innen ein Grund ist, lieber über den traditionellen Weg in closed Journals zu publizieren. Auch spielen institutionelle Vorgaben eine Rolle. Dabei ist zu berücksichtigen, dass top-down Richtlinien nicht immer in jedem Forschungskontext umsetzbar sind. Qualitativ Forschende haben es zum Beispiel schwerer, ihre Daten einfach und verständlich zu öffnen. Hinzu kommt möglicherweise ein anderes Verständnis des wissenschaftlichen Paradigmas, wonach Forschende qualitative erhobene Daten als für nicht reproduzierbar halten. Dennoch würden offene Daten zu mehr Transparenz und Nachvollziehbarkeit der qualitativen Forschung beitragen.
Technik und Infrastrukturen dringend nachbessern
„Bei der technischen Ausstattung muss nachgelegt werden”, so eine Aussage einer Teilnehmerin, die in ihrem Seminar offene Tools und offene Praktiken des Teilens und gemeinschaftlichen Arbeitens mit Studierenden getestet hat und dabei auf ganz basale Probleme stieß. Open Source Tools (wie Cryptpad zum gemeinsamen Schreiben) sind gut, auch für größerer Gruppen, „hängen aber in der Praxis oft noch”.
„Aus zeitlichen Gründen wird auf traditionelle, nicht-offene Methoden zurückgegriffen“
Aus zeitlichen Gründen, und um Studierende „bei Laune” zu halten, wird folglich auf traditionelle, nicht-offene Methoden zurückgegriffen. Die aktuelle Ausnahmesituation mit dem Corona-Virus zeigt, dass eine zugängliche und verlässliche Technik und Infrastruktur nicht nur für Open Science nötig ist, sondern ganz allgemein für digitales Lernen und Lehren.
Studierende an offene Praktiken heranführen
Offene Praktiken in der Lehre sind, so eine Teilnehmerin, auch für viele Studierende Neuland. Kompetenzen im Umgang mit Software, Lernmanagementsystemen sowie digitalen Tools, die offene Praktiken wie kollaboratives Arbeiten ermöglichen, sollten vorhanden sein oder erworben werden.
Sich diese diversen Kompetenzen anzueignen neben dem ersten Lernziel von Seminar oder Übungen – Fachwissen zum Gegenstand des Kurses zu erwerben – stellt eine Herausforderung an Studierende wie Lehrende dar. Sich dieser zu stellen, setzt seitens der Studierenden eine Sinnhaftigkeit voraus. Warum es lohnenswert ist, Zeit und Aufwand in diese oftmals als Zusatzaufgaben wahrgenommen Lernbereiche zu investieren, sollte von Lehrenden transparent gemacht werden, z. B. dass dieser „Beifang“ aus Skills besteht, die für das lebenslange Lernen und im Arbeitsleben gefragt sind. Führen diese Appelle jedoch nicht zum Erfolg, müssen offene Praktiken mit geschlossenen Anweisungen durchgesetzt werden, z.B. indem die Mitarbeit an der gemeinsamen Kursliteraturliste zur verpflichtenden Studienleistung deklariert wird.
Vernetzung und Austausch
Das Verständnis und die Umsetzung von Offenheit bei Forschenden, Lehrenden und Lernenden ist ein komplexer Prozess, und jeder Situation erfordern neue Überlegungen dazu. Viele Projekte, Ideen und Best Practices sind durch den Austausch von Kolleg*innen entstanden. Zu erwähnen sind beispielsweise die Netzwerke des Leibniz-Forschungsverbund Open Science, des Wikimedia Fellow Programm Freies Wissen. Andere lokale Netzwerke werden stetig neu gegründet. Communities und Aktivitäten werden an vielen Stellen gesammelt, unter anderem in dieser Online-Tabelle.
Zur Studie
Die Studie Open Practices of Educational Researcher (OPER) begleitete zehn Wissenschaftler*innen aus der Bildungsforschung zwischen April 2019 bis März 2020. Die Teilnehmer*innen testeten für sich ausgewählte offene Praktiken in der wissenschaftlichen Praxis und Lehrpraxis aus und hielten ihre Erfahrungen unter anderem in Tagebucheinträgen fest. Die Studie hat das Ziel, beeinflussende Faktoren, die Forschende im Alltag bei der Ausübung von offenen Praktiken hindern oder unterstützen, genauer zu untersuchen und somit Gelingensbedingungen für Open Science und Open Education aufzuzeigen. Die Studie wurde gefördert vom Leibniz Forschungsverbund Open Science.
Der vollständige Report auf Zenodo.
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Die Namen der Urheber sollen bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Tamara Heck, Ina Blümel, Sigrid Fahrer, David Lohner, Jürgen Schneider und Linda Visser für DIPF.
Ein Kommentar zu „Offene Praktiken in Wissenschaft und Lehre – eine Diskussion aus der Praxis“
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