Aller Voraussicht nach wird auch das nächste Schuljahr vielfältig von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen sein. Wie kann man sich darauf vorbereiten? Eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung eingesetzte Fachkommission hat entsprechende Empfehlungen erarbeitet. Der Leiter der Kommission – Professor Dr. Kai Maaz vom DIPF – erläutert im Interview, wie das Gremium vorgegangen ist und was im Fokus stand. Er skizziert außerdem das Engagement des DIPF im Zuge der Krise insgesamt.
Die Frage nach den Folgen der Corona-Pandemie für das nächste Schuljahr und dem richtigen Umgang damit ist sehr vielschichtig: Wie sind Sie das Ganze angegangen?
Kai Maaz: Zunächst einmal ist in die Arbeit der Kommission unterschiedliches Fachwissen eingeflossen. Auch die praktische Erfahrung kam nicht zu kurz. Unter den insgesamt 22 Mitgliedern, davon 13 Frauen und 9 Männer, fanden sich Expert*innen aus der Bildungswissenschaft, der Schulpsychologie, der Medizin und dem Schulrecht, zugleich waren aber auch Schüler*innen, Lehrkräfte, Schulleitungen und Schulträgerschaften beteiligt.
Für die inhaltliche Arbeit hat die Kommission sechs Handlungsfelder identifiziert, die jeweils von einer eigenen Gruppe in den Blick genommen wurden. Diese sechs Arbeitsgruppen haben die Empfehlungen auf der Grundlage zentraler Herausforderungen in jedem Handlungsfeld erarbeitet. Dabei hat sich die heterogene Zusammensetzung sehr bewährt. Lehrkräfte und Schulleitungen konnten beispielsweise Empfehlungsvorschläge aus der Wissenschaft direkt auf ihre praktische Umsetzbarkeit prüfen. Auch war es wichtig, dass die Schüler*innen sich aktiv in die Diskussion einbringen konnten. Sie haben auch sehr klare Positionen vertreten und zum Beispiel darauf hingewiesen, dass notwendige Stundenplankürzungen nicht einseitig zu Lasten der Nebenfächer erfolgen sollten.
Welche Themen haben Sie in den Blick genommen und können Sie die nun veröffentlichten Empfehlungen kurz beispielhaft skizzieren?
Das nächste Schuljahr wird auf jeden Fall eine sehr komplexe Herausforderung. Natürlich spielte in unserer Arbeit eine Rolle, wie es mit dem digitalen Lernen weitergeht. Zugleich war uns wichtig zu diskutieren, wie Bildungsbenachteiligungen reduziert werden können. Grundlegend ging es um die Organisation des Schulbetriebs und die Sicherung der Qualität, aber wir haben uns auch mit ganz konkreten didaktischen, schulrechtlichen, psychosozialen, medizinischen und hygienischen Gesichtspunkten auseinandergesetzt. Als Beispiel für die vielfältigen Ergebnisse möchte ich auf die Reduzierung von Bildungsungleichheiten eingehen. Hier denkt man sicher zuerst an gezielte Förderung. Auch darauf haben wir entsprechen hingewiesen. Basis einer solchen Förderung an den Schulen sollte sein, die Lernstände der Schüler*innen verlässlich zu erfassen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, es ist aber leider noch nicht durchgängige Praxis. Es geht aber auch darum, attraktive und kostenfreie Angebote über den regulären Schulbetrieb hinaus zu machen, zum Beispiel in den Ferien, sowie verstärkt und gezielt mit außerschulischen Bildungseinrichtungen zusammenzuarbeiten.
Könnten Sie diese Zusammenarbeit mit außerschulischen Bildungseinrichtungen noch ein wenig erläutern?
Ich denke da an strukturierte Kooperationen mit Einrichtungen, die über Expertise im pädagogischen Bereich verfügen und die helfen können, temporär Zusatzangebote für einzelne Schüler*innen zu realisieren oder auszubauen. Dazu zählen gemeinnützige Angebote wie beispielsweise „Corona School e. V.“ und kommerziell arbeitende Einrichtungen. Das können lerntherapeutische Anbietende sein, die über sehr viel Erfahrung und Fachwissen im Bereich der individuellen Förderung verfügen. Dabei kommt es darauf an, die zusätzliche Expertise integrativ in das Lernangebot der Schule einzubinden, sodass keine voneinander getrennten, parallelen Lernwelten in den Schulen und den außerschulischem Lernorten entstehen. So könnte man gerade für Kinder aus sozial herausfordernden Familien mit Leistungsproblemen die Lernzeiten und Aufgaben flexibler gestalten und stärker ihre individuellen Lernstände berücksichtigen.
„Schule ist mehr ist als ein zentraler Ort der Wissensvermittlung, sie ist ein Raum für ihre soziale und emotionale Entwicklung.“
Ist es denn mit einer gezielten Lernförderung getan?
Nein, es geht auf keinen Fall nur um die schulischen Leistungen. Denn Schule ist mehr als ein zentraler Ort der Wissensvermittlung, sie ist ein Raum für soziale und emotionale Entwicklung. Ihr kommt damit eine wichtige Funktion für die Sozialisation zu. In Zeiten einer Pandemie ist diese Aufgabe möglicherweise mehr denn je von Bedeutung. Erfolgreiches Lernen basiert primär auf stabilen, vertrauten und zuverlässigen Beziehungen. Gerade Kinder und Jugendliche, die in instabilen familiären Beziehungen oder in unsicheren, prekären Lebenslagen aufwachsen, brauchen zunächst sozial-emotionale Stabilität, um sich mit kognitiv oft anspruchsvollen Themen auseinandersetzen zu können. Persönliche Beziehungen bilden hierfür die entscheidende Grundlage. Sie sollen möglichst kontinuierlich und ohne größere personelle Fluktuationen gewährleistet werden. Es wäre zu empfehlen, dass diese Schüler*innen in der Zeit des Fernlernens eine feste Ansprechperson aus der Schule haben, die mindestens einmal wöchentlich persönlichen Kontakt hält.
Was passiert nun mit den Empfehlungen?
Die Empfehlungen wurden heute der Öffentlichkeit vorgestellt [Berichte dazu beispielsweise in der Süddeutschen Zeitung und über die Nachrichtenagentur DTS, Anm. der Redaktion]. Was nun daraus folgt, lässt sich nicht genau sagen. Ich hoffe, dass die Empfehlungen bei den verschiedenen Verantwortlichen und Beteiligten – von der Bildungspolitik bis zu den Lehrkräften in den Schulen – auf Interesse stoßen und dazu beitragen können, mit den Herausforderungen im neuen Schuljahr besser umzugehen.
Da es dieser Tage viele solcher Empfehlungen gibt, die das Thema aber immer aus etwas unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, hoffe ich, dass die Empfehlungen der Friedrich-Ebert-Stiftung einen weiteren Baustein bilden, um einen breiten und nicht einseitigen Diskurs zum Thema Schule führen zu können. Auch adressieren die Empfehlungen Themen, die sich nicht nur auf das kommende Schuljahr beziehen, sondern grundsätzlicher Natur sind. Hier möchte ich zum Beispiel das Ausdünnen der Stundenpläne oder die verstärkte Nutzung alternativer Prüfungsformate nennen.
Apropos verschiedene Bausteine: Bietet denn das DIPF weitere Unterstützungsleistungen im Zuge der Corona-Pandemie an?
Selbstverständlich! Die durch die Corona-Pandemie hervorgerufene Situation ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und adressiert das Thema schulische Bildung in ganz besonderer Weise. Mit den Schulschließungen ist nicht nur ein zentraler Lern- und Lebensbereich weggebrochen. In den letzten drei Monaten hat sich außerdem der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag deutlich in die Familien verlagert, was diese in bislang nie dagewesener Weise fordert und belastet.
Für das DIPF ist die schulische Bildung aus der Perspektive der Bildungsforschung und Bildungsinformation ein Schlüsselthema. Daher möchte unser Institut auf jeden Fall dazu beitragen, mit dieser für alle herausfordernden Situation besser umgehen zu können. Unser Engagement in Kommissionen, neben der Friedrich-Ebert-Stiftung beispielsweise auch im Rahmen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, bildet dabei nur einen Punkt. Ein paar Beispiele: Der Deutsche Bildungsserver hat im Zuge der Corona-Pandemie verschiedene Dossiers mit Informationen für Schulleitungen, Lehrkräfte, Eltern, Schüler*innen veröffentlicht. Aus den Herausforderungen der aktuellen Situation haben wir auch schnell Forschungsfragen und entsprechende Studien entwickelt. Ein Beispiel ist die PACO-Studie, die fragt, wie es Familien mit Schulkindern gelingt, sich an die Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen anzupassen. Aus einem anderen laufenden Projekt wurde das digitale Ferienförderangebot „Ferdi“ für Grundschulkinder mit Lernrückständen im Lesen, Schreiben oder Rechnen entwickelt, das der Kultusministerkonferenz zur Umsetzung angeboten wurde und das das Land Hessen auf jeden Fall aufgreift. Und auch der Nationale Bildungsbericht, der in drei Wochen veröffentlicht wird, thematisiert Probleme, die aufgrund der Corona-Situation in den verschiedenen Phasen der Bildungsbiografie entstehen.
Die Empfehlungen der Fachkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung finden Sie im Detail auf der Website der Stiftung.
Prof. Dr. Kai Maaz ist Geschäftsführender Direktor des DIPF. Dort leitet er außerdem die Abteilung Struktur und Steuerung des Bildungswesens. Zugleich ist er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem Bildungsübergänge, sozio-kulturelle Disparitäten des Bildungserfolgs und Bildungsreformen.
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Philip Stirm für DIPF.